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19.05.2013 - Riga Marathon Autor: BernhardSesterheim
E-Mail: SesterheimGmbH (at) web.de |
Im schwülwarmen Riga gerate ich immer wieder in einen drängelnden Massenauflauf. Doch Riga ist wirklich eine Reise wert. |
Schon 1991, dem Jahr als die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland ihre Freiheit wieder erlangten, entstand in mir eine gewisse Neugier auf diese Gegend. Dank der günstigen Flugverbindungen vom Hunsrück-Flughafen Hahn, der gerade 70 km von meiner Wahlheimat Trier entfernt ist und von der Irischen Billig-Fluggesellschaft Ryan-Air zu einem Preis angeboten wird, der weniger kostet als eine Rückfahrkarte Trier – Berlin von der Deutschen Bahn, fiel mir die Entscheidung leicht, mich an einem dunklen und kaltem Januar-Abend für den NORDEA RIGAS MARATONS online anzumelden. Meine Frau Birgid läuft zwar gegenwärtig keine Rennen, war aber trotzdem bereit, mich auch auf dieser Reise zu begleiten. Sie buchte hochkonzentriert unter Umgehung aller Zusatzkosten auf dem Ryan-Air Internet-Buchungsformular die Flugreise in die alte Hansestadt Riga. Es ist Freitag 17. Mai 9:30 Uhr und im stürmischen Wind mit eiskaltem Regen bei einstelliger Plus-Temperatur erreichen wir die Treppe zur Boeing 737, die in wenigen Minuten Kurs nach Nordosten nehmen wird. Außergewöhnlich ist das nicht, ist es doch so, dass der Mai sowohl als Winter- als auch Sommermonat daher kommen kann. Der Start erfolgt zur planmäßigen Zeit und Minuten später sind wir für eineinhalb Stunden über den Wolken. Die letzten 20 Minuten geben ein anderes Bild, kann ich doch tief unter mir bei Sonnenschein Landschaften mit Wald, Wiesen, Äckern, viele im leuchtendem Gelb (Raps) und kleinen Seen erkennen. Die Städte und Ortschaften liegen weit auseinander, was auf eine viel geringere Siedlungsdichte als bei uns zu Hause hindeutet. In der Ferne kann ich sogar die Ostsee mit ihren Haffs erkennen. Kurz darauf setzt das Flugzeug zu einer gekonnten sanften Landung an. Nach wenigen km Fahren auf der Rollbahn kommt der Flieger zum Stehen und ein Trompetenklang ertönt, der in der vollbesetzten Maschine von den meisten jetzt gutgelaunten Passagieren mit Händeklatschen applaudiert wird. Beim Verlassen des Flugzeugs gewinne ich schon auf der Treppe den Eindruck, irgendwo in den Tropen gelandet zu sein. Die Lufttemperatur beträgt über 30 Grad und die Luftfeuchtigkeit kann stärker auch in Französisch Guyana nicht sein. Doch wir sind wie geplant in Riga und nicht in Cayenne gelandet. Endlich haben wir wieder Sommer, und wir schwelgen in Gefühlen des Glücks. Im Flughafen wechseln wir etwas Geld in die Lettische Währung Lats. Die Münzen ähneln stark unseren Pfennigen, und die Banknoten riechen wie die DM-Scheine. Sie kommen wahrscheinlich aus der gleichen Spezial-Druckerei bei der auch unsere guten DM-Noten gemacht wurden. 2014 will die Lettische Regierung den € einführen. Ein Volksentscheid darüber ist meines Erachtens dringend anzuraten. Denn für mich kommt es auf das Gleiche hinaus, als wenn anno 1912 auf die Titanic nach der Kollision mit dem Eisberg mit einem Hubschrauber (hätte es diese damals schon gegeben) noch Passagiere zugestiegen wären. Wir kaufen Bus-Fahrscheine für die Linie 22 und besteigen den Omnibus, der uns nach 11 km in die Innenstadt bringen soll. An sumpfigem Land mit teilweise abgerissenen Liegenschaften, wahrscheinlich ehemaligen Russischen Militärgebäuden, die von der Natur zurückerobert wurden, geht’s vorbei und wir erreichen Riga-Stadt. An vielen Haltestellen stoppt jetzt das Fahrzeug und Leute steigen ein und aus. Jetzt hält der Bus wieder, davor stehen 5 Frauen in neon-gelben Plastikwesten mit der schwarzen Aufschrift "Controll". Wir zeigen unsere Fahrkarten (Plastikkarten) einer Kontrolleurin. Diese stutzt und ruft ihre Chefin und redet mit ihr auf Lettisch, einer für uns total unverständlichen Sprache. Mit strengem Blick fragt sie mich jetzt, ob ich Englisch sprechen kann, was ich sofort vehement verneine. Birgid verhält sich wie ein kleines Kind, das 6 Jahre alt ist und mit ihren Eltern in einen Freizeitpark mitgenommen wird, dessen Eintritt für Kinder unter 5 Jahren frei ist. Sie teilt dem Eintrittskartenverkäufer lautstark mit, dass sie schon 6 Jahre ist… Sie sagt nämlich: Yes I speak English! Daraufhin werden wir von der gestrengen Kontrolleurin aufgefordert, den Bus zu verlassen. Birgid protestiert, es nützt nichts. Wieder muss ich hören: „Leave the bus!“ Mit einer Stimme, die einem Hauptfeldwebel der Bundeswehr alle Ehre gereichte, erkläre ich ihr jetzt auf Englisch, dass wir deutsche Touristen sind, am Marathon teilnehmen würden und die Fahrkarten am Flughafen käuflich erworben hätten, und frage sie was das ganze Prozedere ihrerseits soll. Und sie besteht weiterhin auf unser Verlassen des Öffentlichen Verkehrsmittels. Ich denke jetzt, dass sie es auf ein Machtspielchen ankommen lassen will, um ihren 4 Unter-Kontrolleurinnen zu zeigen, wer sie ist und was sie kann. Noch lauter als auf einem Kasernenhof plärre ich jetzt: „No, we stay here!“ und schicke noch einige Schimpfwörter auf Deutsch hinterher! Ein würdevoller älterer Herr spricht jetzt diese resolut wirken wollende Dame an, schlagartig verändert sich ihre dominant wirken sollende Körperhaltung, hält unsere Karten an einen Scanner, der darauf hin piepsende Laute von sich gibt und überreicht uns wortlos die jetzt entwerteten Fahrscheine. Wenige Minuten queren wir eine Brücke über einen Fluss, der mindestens die eineinhalb-fache Breite des Rheins hat und gelangen in die Altstadt. Zahlreiche Kirchen gibt es da und öffentliche Gebäude, unter anderem das Museum der russischen Besatzungszeit 1940-1991. Die Straßen sind im Original-Kopfsteinpflaster des 18. Jhd. erhalten und die allermeisten Häuser sind inzwischen zumindest äußerlich stilgerecht restauriert. Bald erreichen wir unser Hotel, das unsere Freunde Klaus Neumann und Günter Meinhold auch gebucht haben. Wir begeben uns jetzt zu einer Stadtbesichtigung und sind äußerst beeindruckt von der Architektur Rigas. Am späten Nachmittag treffen wir Klaus und Günter und nehmen am Dom-Platz in einem kleinen Restaurant hervorragend schmeckende Gerichte als Abendessen zu uns. Am Samstag-Morgen holen wir in einem großen Hotel auf der anderen Seite des Flusses, der Daugava heißt unsere Startunterlagen ab. Es herrscht ein großes Gedränge, da außer Marathon- und Halbmarathon auch noch 5 km- und 10 km-Läufe am Sonntag stattfinden. An einer Wand sind in schwarz alle Namen der Marathon-Teilnehmer angebracht. Irgendwie erinnert mich das an die Ehrentafel der Gefallenen der Französischen Fremdenlegion des 2. Regiment des Parachutistes in der Kaserne zu Calvi auf Korsika. Anschließend begeben wir uns zu viert zu weiteren Entdeckungsbegehungen der wunderschönen Altstadt, wo es eine Vielzahl von angenehmen und preisgünstigen Restaurants gibt. Am späten Nachmittag entlädt sich die tropische Schwüle in ein heftiges Gewitter mit einem 2-stündigen Starkregen. Doch im Gegensatz zu unseren Breiten, wo es nach einem Gewitter in der Regel stark abkühlt, bleibt es warm. Früh wollen wir zu Bett gehen, um für den morgigen Marathon gut ausgeruht zu sein. Doch viele junge Leute finden sich in den Lokalen auf unserer Straße ein, Tische und Stühle sind vor den Gastwirtschaften aufgebaut. Kaum ein Platz ist frei, und das Bier fließt megahektoliterlich die ganze Nacht in Kehlen, die immer lauter werden. Bis weit in den sich erhellenden Morgen geht das Gröhlen und Gejohle der Zecher weiter. Und trotz des Schließens der Fenster ist an einen erholsamen Schlaf nicht zu denken. Nach einem guten Frühstück bewegen wir uns zum wenige 100 m entferntem Startplatz unweit der Daughana. Sogar kurz nach 7.00 Uhr prosten uns immer noch einige unentwegte und trunkene Zecher zu. Der Marathonstartplatz ähnelt dem des Düsseldorfer Marathons wegen der Nähe zum großen Fluss. Seltsamerweise sind die Startblöcke aber nicht nach Leistungsgraden der Läufer sondern nach Reihenfolge der Startnummern angebracht. Die Marathonläufer und die –Halblinge starten gemeinsam. Pünktlich um 8.30 erfolgt der Start und durch ein mehrhundertmetriges Spalier von Tausenden von jubelnden Zuschauern beginnt das Rennen. Sehr schnell finde ich meinen Rhythmus und laufe emotional hochbewegt in meinem Wohlfühltempo durch prächtige Alleen mit imposanten Bauwerken. Man könnte Riga auch als das Paris des Nordens bezeichnen. Sehr bald wird es wieder richtig heiß, und es ist nach wie vor schwül. Nach etwas mehr als 1 Stunde kommt uns auf einer Wendestrecke die Marathonelite Schwarzafrikas entgegen, mit einer Geschwindigkeit, bei der ich noch nicht einmal 30 m mithalten könnte. Nach einer Viertel-Stunde muss ich auf der noch immer gegenwärtigen Wendestrecke eine bewusstlose schwarze Eliteläuferin sehen, an der gerade Reanimierungsversuche vorgenommen werden… Alle 3 km kommen Getränkestellen, die anfangs nur Wasser, später auch ISO-Getränke bereithalten. Von Coca-Cola als erfrischendem Sportgetränk hat die Marathon-Organisation anscheinend noch nichts gehört. Egal, bis zum Halb-Marathon-Finish laufe ich leicht und locker und staune über mich selbst. Der letzte lange Lauf war der 6-h-Lauf in Nürnberg und zuvor nur der Kevelaer-Marathon am ersten Sonntag des Januar. Dazwischen war ich an den Wochenenden immer mindestens 30 km auf dem Saar-Hunsrück-Steig unterwegs, um Markierungen für den von mir organisierten SH-Supertrail anzubringen (www.sh-supertrail.de). Doch meine Laufgeschwindigkeit dort hatte mit einem Straßenrennen nichts gemein. Nachdem die Marathon-Halblinge rechts ins Ziel laufen, wird es auf der Strecke richtig einsam. Zuvor war ich immer von Läufern umgeben und konnte auch mit Letten auf Deutsch und Englisch gute Gespräche führen. Schon bei km 22 spüre ich Müdigkeit und die Hitze ganz intensiv. Nach km 24 verläuft der Parcours an einer Tankstelle vorbei, wo ich mir eine Flasche Coca-Cola kaufe. In kleinen Schlücken trinke ich und nach wenigen Minuten laufe ich wieder leichter, jedoch langsamer als auf der ersten Streckenhälfte. Bei km 28 laufe ich in eine vieltausendköpfige Schar von frisch gestarteten 10 km-Läufern ein. Eng auf eng geht es zu, und ich spüre Ellenbögen von Zick-Zack-Überholern, einer tritt mir sogar voll auf den Fuß. Ich fühle mich wie in einer Discothek, wenn ein Brand ausgebrochen ist und alle zu den wenigen Ausgängen rennen… Nur 2 km muss ich in diesem sinnbildlichem Hexenkessel verweilen, dann führt die Marathonstrecke nach rechts auf eine Halbinsel im Fluß. Auf gerader Straße führt der weitere Rennverlauf jetzt in eine heruntergekommene Gegend, an abgebrannten Hausruinen und seit vielen Jahren leerstehenden Häusern aus Holz vorbei. Vor einem Gebäude steht sogar noch ein Autowrack einer russischen Limousine aus den 50er oder 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Zu einem totalen Kontrast steht mitten in dieser verlotterten Gegend ein brandneues Fabrikgebäude mit der Aufschrift „Schaller Lebensmitteltechnik“. Nach einer Kehrtwende geht es zurück, an einem kasernenartigem Gebäude vorbei, wo eine Gruppe dem Alkohol zusprechender Leute mir enthusiastisch applaudieren. Darunter eine anscheinend in die Jahre gekommene russische Ex-Diva mit leuchtendrot gefärbter 20 cm hoher Frisur und überaus stark geschminktem Antlitz. Jetzt gefällt mir das Rennen wieder gut. Die lange gerade Straße geht es jetzt wieder zurück. Und eine Dame, deren Laufstil ich schon von weitem kenne, kommt in meinen Sichtbereich. Schließlich kann ich die Hand meiner Lauffreundin Sigrid Eichner abklatschen, die wegen einer schweren Verletzung seit Januar das erste Mal wieder Marathon läuft. Wenig später, eieiei… die breite Hauptstraße von der ich vor einer dreiviertel Stunde abgebogen bin kommt wieder in Sicht und… es scheint, der Läuferstrom darauf ist noch stärker angeschwollen. In der Tat, als ich zu ihm stoße, geht es noch enger zu. Es sind die 5 km-Läufer, die vor etwa 1km gestartet sind. Viele Tausende sind jetzt dichtgedrängt unterwegs, Jugendliche, Schulkinder, Eltern mit Kleinkindern sogar mit Kinderwagen, ganz Dicke, Opas und Omas gehen, laufen, stoppen, treten mir auf die Füße. Wieder spüre ich Ellenbogen. Nach wenigen 100 m kommt ein Schild mit einem Pfeil Marathon nach rechts. Und wieder bin ich für 1 km raus und kann frei atmen. Eine Wendestrecke und eine Wasserstelle, wo ich mir mindestens 5 Gläser Wasser auf Kopf und Körper kippe wird traversiert. Und ich sehe schon wieder den Marathonweg, der in die Massen von 10.000 Menschen hineinführt. Ich fühle mich jetzt, als wäre ich in einem Fußballstadion inmitten von tausenden Fans. Wieder spüre ich Anstupsereien, grobe Ellebogenstöße. Mehrmals muss ich mein sehr zornig werdendes Gemüt mit „Arschloch“-Schreien substituieren. Nach 3 km in dieser Hölle kommt das Ziel in Sicht. 3 Digital-Uhren zeigen die 5er, die 10er und die Marathonzeit an. Mit großer Erleichterung springe ich über den Zielzeitteppich und kann wenig später meine Birgid, die unweit hinter der Ziellinie auf mich gewartet hatte, umarmen. Eine große Flasche Mineralwasser gieße ich über meinen überhitzten Körper und nehme wahr, dass es vollbracht ist… Dann gibt es noch eine schöne Marathon-Finisher-Medaille und eine Präsenttasche. Mit der lieben Birgid begebe ich mich wieder in das gute Restaurant am Dom-Vorhof, wo später auch die Freunde Günter und Klaus dazukommen. Im angenehmen Zusammensein mit wohligen Endorphingefühlen nehmen wir mit Sprüchemachen und guten Gesprächen das Abendessen ein. Klaus Neumann, deutscher Botschafter beim Comrades-Marathon in Südafrika, und Günter Meinhold, der auch schon mehrmals den weltweit bekanntesten Ultramarathon über 90 km geschafft hat, animieren mich an einer dortigen Teilnahme in 2014. Dazu muss ich jedoch meinen bisherigen Lauf-Lebensstil, der sich in keiner Weise an Tempi ausrichtet, energisch ändern. Das heißt, mindestens 7 kg müssen meinen Körper verlassen und ich muss ungeliebte Tempoläufe in ein hartes Training einplanen. Ich denke, dass ich im Januar 2014 mit eiserner Disziplin an die Sache herangehen werde, denn der Mensch braucht Ziele. Und der Comrades-Marathon wäre es tatsächlich zum Abschluss meiner Läufervita wert. |
Jetzt nochmals zum Riga-Marathon: Trotz verhältnismäßig spartanischer Verpflegung ist die Veranstaltung zu empfehlen, bedingt durch die Schönheit der Stadt Riga. Aber nur wenn der Läufer weniger als 4:45 Stunden braucht. Andernfalls gerät er in die Stampede von Zigtausenden… Euer Bernhard |