Durch irgend einen dummen (oder glücklichen?) Zufall habe ich die Ausschreibung der 100km von Biel gelesen. Start 22:00 Uhr, Zielschluss 20:00. Also 22 Stunden Zeit. Zudem gibt es 4 Teilstrecken, nach jeder kann man abbrechen und kommt in die Wertung. Also geradezu ideal für Langsamläufer und vor allem Genussläufer, man läuft einfach so weit man will und hört dann eben auf. Genau so hatte ich mir das auch vorgestellt, in der Nacht die ersten 40km laufen, quasi als gemütlichen Nachtmarathon, danach einfach open-end. So lange es mir Spass macht und so weit die Beine tragen. Dass es am Ende 82 km werden sollten hätte ich mir nie erträumt. Aber es lief eben einfach.
Nachmeldung im Eisstadion
Freitag Vormittag fuhr ich los, bis auf ein paar kleinere Staus kein Problem. Am Nachmittag komme ich in Biel an, und suche erst einmal das Eisstadion. Die Beschilderung könnte besser sein, die Parkplatzsituation finde ich etwas unübersichtlich. Ich muss noch nachmelden, aber das läuft alles unproblematisch, ein Formular ausfüllen, 100 Franken bezahlen und schon bekommt man Startnummer und Chip. Dann das Problem, was mache ich 4 Stunden lang bis zum Start? Ich lege mich auf eine Wiese und versuche ein wenig zu entspannen, ich träume schon von dem Lauf in die Nacht, ich versuche mir vorzustellen, wie ich ins Ziel einlaufen werde. Geringe Chancen rechne ich mir doch aus, warum sollte es denn nicht klappen? Aber egal, so weit will ich noch gar nicht denken.
Ich spiele noch ein wenig mit der neuen Digitalkamera, heute soll sie mich begleiten. Ich hatte beschlossen mit Rucksack zu laufen, also gleich noch eine Premerie am heutigen Tag. Mitnehmen wollte ich vor allem eine Flasche, denn die Versorgungsstellen lagen laut Plan bis zu 9 km auseinander, da wollte ich doch lieber unterwegs noch etwas dabei haben. Und wenn man erstmal den Rucksack in der Hand hat, dann füllt er sich wie von Geisterhand. Jetzt verstehe ich auch, warum Thomas immer seinen halben Hausrat spazieren trägt. Die Kamera musste natürlich mit, das Cappie und Sonnencreme (falls ich auch noch nach Sonnenaufgang laufen sollte), Autoschlüssel... Ich habe mich, glaube ich zumindest, doch auf das nötigste beschränkt.
Der Startbereich
Gegen 20:00 gehe ich langsam Richtung Start, mir wird einfach zu langweilig. Ein kleiner Rundgang um den Start/Zielbereich, dann liege ich auf der Wiese und döse ein wenig. Die Temperaturen sind mittlerweile ganz angenehm. Ich überlege, ob ich ein Foto vom Ziel machen soll, aber ich verwerfe den Gedanken. Sollte ich das Ziel erreichen, dann ist dort immer noch Zeit. Wenn ich vorher aussteige, dann brauche ich auch das Foto nicht. Um 21:30 h schaue ich zu, wie die Begleit-Radfahrer auf die Strecke geschickt werden, sie müssen voraus fahren und dürfen erst ein gutes Stück weiter ihre Schützlinge erwarten. Ich schlendere ein wenig umher, probiere noch das Sponsoren-Getränk. Naja, so schlecht schmeckt es gar nicht, aber ob es soviel bringt wie es verspricht?
Gleich gehts los
Endlich reihen sich die Läufer zum Start auf, ich gehe vorsichtshalber gleich ganz nach hinten. Der Startschuss fällt, die Masse setzt sich langsam in Bewegung. Es geht durch die Strassen von Biel. Seltsamerweise läuft aber keiner, selbst nach 2 Kilometern habe ich noch einen großen Pulk von Gehern vor mir. Dass es zu Beginn solcher Läufe immer Staus gibt ist ja normal, aber über so lange Zeit? Aber egal, solange alle gehen kann ich das auch tun. Erst bei km 3 begreife ich langsam, dass die ja gar nicht laufen wollen! So viele Geher und Wanderer (ein paar Militärs waren auch dabei) hatte ich aber wirklich nicht erwartet. Ich dachte, bei so einem Lauf gehen nur die besten und durchtrainiertesten Läufer an den Start. Was für ein Irrtum, es sind alle Altersklassen vertreten, und auch alle Gewichtsklassen :-) Ich beginne also langsam zu traben, ein paar Kilometer nur, dann kommt die erste größere Steigung. Laut Plan sollte vorher eigentlich eine Verpflegungsstelle sein, an der ich meine Flasche mit Wasser füllen wollte, aber da war nichts. Ich begann mich zu ärgern, habe ich die Stelle übersehen? War das ein Fehler in der Ausschreibung? Wie lange muss ich jetzt ohne Wasser laufen? Und Wasser war sehr wichtig. Trotz der Temperaturen von "nur noch" 20-25 Grad schwitze ich wie selten zuvor, und das vom Start weg! Selbst im Gehen läuft mir der Schweiß in Strömen den Rücken herunter. Langsam gehe ich den Berg hinauf, oben wartet die Verpflegung, die eigentlich schon unten sein sollte. Glück gehabt, erstmal einen kräftigen Schluck Wasser nehmen und die Flasche füllen.
Danach geht es in die Dunkelheit der Nacht, der Vollmond taucht die Landschaft in ein schönes Licht. Es wird etwas kühler und frischer, zeitweise geht ein ganz leichter Wind. Das war mit die angenehmste Phase des Laufes. Bald darauf überholen mich die Staffelläufer, die ja eine Stunde später starteten. Beeindruckend wie sie an uns vorüberfliegen. Ich laufe ziemlich einsam durch die Nacht, überhole noch einige Geher, es werden aber immer weniger. So langsam werde ich innerlich ruhig, die große Aufregung hat sich gelegt, erste Routine ist eingekehrt. Ich kenne inzwischen die Verpflegunsstationen, weiß wo das Wasser steht, vorne, habe mich an das Brot gewöhnt. Brot esse ich von Anfang an, sehr wichtig.
Ich habe insgesamt bestimmt 10 Liter getrunken während des Laufs, da brauche ich ein wenig trockene Nahrung im Magen. Ansonsten gönne ich mir nur noch ein paar Stückchen Banane. Bei meinem langsamen Tempo sollte das eigentlich genügen. Einmal probiere ich die Bouillon, aber so richtig überzeugt hat mich das auch nicht.
An viele Details kann ich mich nicht mehr erinnern, der Lauf durch die Nacht war geprägt durch Ruhe und Einsamkeit. Überwiegend Strassen, ein paar Feldwege. Bei Kilometer 30 spüre ich Steinchen im Schuh, als ich sie entfernen möchte merke ich, dass es Blasen sind. Das kann ja noch heiter werden. Weiter geht es, leicht wellig, ab und an auch eine richtige Steigung- An ein richtig steiles Stück kann ich mich erinnern.
Zuschauer gegen Mitternacht
Bald sollte der erste Abschnitt zu Ende sein, 40 km wären dann geschafft. Soll ich aufhören? Ich horche in mein Inneres, mir geht es gut, die Beine sind fit. Ausserdem will ich wenigstens noch den Sonnenaufgang sehen, also die ganze Nacht hindurch laufen. An der Station angekommen also das übliche Ritual: Wasserflasche füllen, Banane essen, Brot und einen Becher Wasser schnappen und im Weitergehen essen. Danach laufe ich über einen schönen Talgrund, auf der anderen Seite wartet eine lange Steigung. Diese nehme ich wieder im Gehen, wie alle Steigungen. Ich gehe überhaupt viel, und noch nie zuvor haben diese ständigen Wechsel zwischen Laufen und Gehen so gut geklappt wie heute. Irgendwie bin ich einfach nur glücklich. Wie viele Stunden ich schon unterwegs bin ist mir gar nicht bewusst, ich laufe einfach durch die Nacht und versuche jeden Schritt zu geniessen. Langsam wird es hell, erster Morgennebel wird sichtbar.
Sonnenaufgang
Die Stimmung ändert sich nun deutlich. Nachts fühlte ich mich von friedlicher Stille umgeben, jetzt wird die Zivilisation sichtbar, Häuser, Dörfer, Stromleitungen, all das, was man nachts kaum wahrnimmt. Auf den Strassen regen sich Autos, für uns Langsamläufer können die Strassen natürlich nicht mehr voll gesperrt werden, Die ersten Spaziergänger begegnen uns, Menschen sitzen vor ihren Häusern und frühstücken. Und ich? Ich laufe immer noch. Wie lange laufe ich eigentlich schon? Ohne Uhr könnte ich es glaube ich gar nicht sagen, das Gefühl für Zeit habe ich verloren. Ich laufe einfach ohne mich um Zeiten und Kilometer zu kümmern. Für die Streckenlänge fehlte mir sowieso jegliches Vorstellungsvermögen, was sind 100 km? Mit dem Fahrrad bin ich schon oft 100 km gefahren, ich weiß was das bedeutet, aber 100 km laufen? Meine bisher längste Strecke war ein Marathon. Man stelle sich also vor, man läuft einen Marathon, dann noch einen und zum Abschluss noch einen halben! Alles sinnlos, sowas kann man sich einfach nicht vorstellen.
Schon von Anfang an beobachte ich meine 5km-Zeiten, erstaunlicherweise sind sie äusserst konstant. Ich sehe nicht die gesamte Strecke, nehme einfach jeden 5km-Block für sich alleine. Ausgeschildert ist nur jeder 5. Kilometer! Und ich versuche mir eben diese 5 km einigermassen einzuteilen, versuche ein ausgewogenes Verhältnis von Laufen zu Gehen einzuhalten. Viel dazu tun musse ich nicht, es ergibt sich einfach alles von selbst. Steigungen zum Gehen, dann wieder ein Gefälle zum Laufen. Es machte einfach Spass. Für mich ist jede 5km Markierung ein neues Ziel, an das was danach kam will ich nicht denken. Ich laufe also mental nicht der 100 entgegen, sondern immer nur der nächsten 5er-Tafel. Und tatsächlich bewegen sich meine 5km-Zeiten in einer Toleranz von nur einer Minute.
Typischer Baustil
Irgendwann ist auch der 2. Abschnitt geschafft (59 km), also muss wieder eine Entscheidung gefunden werden: aufhören oder weiterlaufen? Die Entscheidung fällt mir ebenso leicht wie nach dem ersten Teilstück. Mir geht es gut, die Beine sind noch fit. Die Blasen? Naja, solange ich laufe spüre ich sie kaum, den Effekt hatte ich schon oft auf Bergtouren: so lange ich in Bewegung bin sind die Blasen erträglich, aber sobald ich die Schuhe ausziehe oder länger Pause mache kann ich danach kaum noch laufen. Also nicht lange überlegen, einfach weitermachen.
Kurz nach der Station das schlimmste Stück der Strecke, es geht direkt um eine Kläranlage. Es stinkt entsetzlich, teilweise giftroter Schaum über der Brühe. Hätte man da nicht eine andere Strecke finden können? Danach kommt der Schrecken vieler Läufer, der berüchtigte Ho-Chi-Minh-Pfad.
Nachts kann das unangenehm sein. Ein schmaler, einspuriger Pfad aus Naturboden, versetzt mit Steinen und Wurzeln. Dazu Gebüsch das oft in den Weg hineinragt! Ich bin froh, dass ich das bei Tageslicht laufen darf. Bald wird der Weg zweispurig und verläuft wie auf einem Damm, ist aber zwischen den beiden Spuren mit dicken Kieselsteinen übersäht. Rechts und Links fällt der Damm ein paar Meter ab, ein Wunder, dass da nachts niemand hinunterstürzt. Die Steine drücken natürlich auf die Blasen, seltsamerweise ist das Laufen weniger schmerzhaft als das Gehen, ich versuche also den Ho-Chi-Minh-Pfad überwiegend laufend hinter mich zu bringen. Lange Zeit geht es nun an einem Damm entlang, überwiegend Naturboden. Wenigstens ist es über längere Strecken eben und überwiegend schattig. Ich trage etwas Sonnencreme auf, zumindest auf Gesicht und Arme. Lange wird sie bei dem Wasserdurchsatz der Haut nicht halten, aber vielleicht bringt es etwas. Die schnelleren Läufer haben mit der Sonne natürlich kein Problem, sie kommen früh morgens bereits ins Ziel.
Ho-Chi-Minh-Pfad
Gegen Ende des 3. Abschnitts wartet eine 10km lange Steigung, fast kein Schatten mehr. Während ich gehe und mir die Sonne auf die Haut brennt, überlege ich mir wie es weitergehen soll. Soll ich bei km82 Schluss machen oder die letzten 18km noch versuchen? Lange dauert die Entscheidungsfindung nicht. Bis hierher war es ein super Lauf, jeden Meter konnte ich genießen (bis auf die Kläranlage!), ich war wahnsinnig glücklich und zufrieden. Sollte ich diese schönen Eindrücke auf der Schlussetappe noch gefährden? Nein sicher nicht. Die Sonne wird immer stärker, es ist bereits vormittags. Die Blasen werden natürlich auch nicht besser, besonders beim Gehen drücken sie jetzt doch, und einen Mega-Sonnenbrand will ich mir erst recht nicht holen. Die Arme sind jetzt schon knallrot. So verlangsame ich meinen Schritt ein wenig und lasse mir das aufregende Ereignis nocheinmal durch den Kopf gehen. Vom Start durch die ruhige Nacht in den lebhaften Tag, ich denke an ein paar markante Stellen, an Läufer mit denen ich ein wenig gequatscht habe. Ich denke an meine Erwartungen vor dem Lauf, 40 km wollte ich laufen, jetzt sind es schon fast doppelt so viele.
Endlich der km80, noch ein paar Minuten bis zur Station, die Matte überlaufen. Ich melde ohne zu zögern meinen Abbruch, bekomme einen Stempel auf die Startnummer und man notiert die Zeit. Ich nehme einen Schluck Wasser, gehe zu den Samaritern (wie die Sanitäter dort heißen) und lasse mir kurz die Beine massieren. Mehrmals werde ich gefragt warum ich denn abbreche, wo ich doch noch "normal" laufen kann und versuche es immer wieder zu erklären. Wenn ich jetzt aufhöre kann ich glücklich und zufrieden heimfahren, wenn ich weiter laufe erreiche ich vielleicht noch das Ziel, aber ich gefährde meine gute Stimmung und meine Gesundheit. Das ist es mir definitiv nicht wert! Ob ich in der Ergebnisliste unter 100km oder "nur" 82km geführt werde, es interessiert mich nicht. Ich muss noch auf den Rücktransport warten und liege solange alleine im Zelt. Ich versuche noch in mich hineinzuhören, versuche herauszufinden, ob ich nicht doch ein wenig traurig bin, weil ich das Ziel nicht mehr sehen werde. Aber da ist keine Trauer, nur Freude.
Ich glaube mir liefen noch ein paar Tränen aus den Augen, es war einfach so schön, bis dorthin, doch es war Schluss.
Vielleicht komme ich wieder und vielleicht werde ich dann das Ziel zu Fuss erreichen, aber eines habe ich mir fest vorgenommen: so wie manch einer hier am Zelt vorbeischleicht möchte ich nie in ein Ziel einlaufen, lieber höre ich rechtzeitig auf.
Ein Läufer schleicht am Samariter-Zelt vorbei, wie er wohl im Ziel aussieht?
Auf der Rückfahrt nach Biel kommen mir einige Stellen bekannt vor, z.B. eine schöne Holzbrücke über die wir gelaufen sind. Nachts habe ich davon nicht viel mitbekommen, und genau da liegt für mich der Reiz am Nachtlauf, man kann sich ganz auf sich selbst konzentrieren und wird nicht so sehr von äusseren Eindrücken abgelenkt. Der Chip wird völlig unbürokratisch abgegeben, danach bekomme ich das T-Shirt und ein Zertifikat über die gelaufenen 82km. Wegen der Blasen verzichte ich auch auf die Dusche, die Schuhe ziehe ich lieber erst daheim aus. Ich esse noch eine Banane und trinke etwas Wasser, gehe zum Auto und fahre heim. Müde bin ich seltsamerweise immer noch nicht. Nach einer weniger schönen Fahrt mit Stau in Bregenz und Unfällen im Gewittersturm der Schwäbischen Alb komme ich wieder heim. Ich bin zurück in der Realität, zurück im wahren Leben.
Irgendwie war es wie ein Traum, allerdings ein sehr schöner, an den ich noch oft denken werde.
Stefan
PS: Am Tag danach plagen mich nur noch die Blasen an den Füßen, Muskelkater habe ich nur in den Schultern. Und fest vorgenommen habe ich mir auch noch etwas: ab sofort wird wieder öfter trainiert ;-)
Startnummernausgabe
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Der Startbereich
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Ruhe vor dem Start
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Radbegleiter stellen sich auf..
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..und fahren ab
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Jetzt wird es langsam ernst
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der Mond leuchtet über den Bäumen, endlich geht es los
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Zuschauer bei Nacht
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die Sonne geht auf
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die Nacht hat sich verabschieded
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idyllische Schweiz
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und gute Verpflegung
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Ho-Chi-Min
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...
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einsame Bauernhöfe
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und der lange Anstieg
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nach 82 km und 13,5 h ist der schöne Lauf beendet
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andere quälen sich noch ins Ziel
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