Team Bittel
 

1. Fasten-Marathon Zürich 13.04.2003  

Autor:  ErwinBittel   E-Mail: erwin@teambittel.de
Letzte Änderung: 19.04.2003 16:17:58

Wie bitte??? - Fasten und Marathon?

Lisa und ich auf dem Weg zu ihrem ersten Marathon.
Wie bitte??? - Fasten und Marathon?



Ja, und erstmal hallo!


Naja, es hat sich zufällig so ergeben. Ein Freund wollte seit längerem schon gemeinsam mit mir fasten. War abgemacht. Das hat sich dann etwas verschoben und ich war eben schon für den Marathon angemeldet. Es ist einfach gekommen. – Also habe ich mich während der Fastentage sehr genau beobachtet. Wie immer. Nur wenn es mir gut gehen würde, dann würde ich weiterfasten. Und im weiteren galt dies auch für den Marathon.




Und so fing es an:

Montag 07.04.2003: Der Tag x

Heute beginne ich mit dem Fasten. Ich esse bis Mittag nichts, dann esse ich zwei, drei Stück Obst. So fange ich immer an. Abends einen kleinen Salat. Etwas besonderes ist solch ein Tag nicht, kommt bis gegen Abend häufiger mal so vor, dass ich nur Obst esse. Erst beim Abendsalat spüre ich etwas Lust mehr zu essen. Doch ich beherrsche mich. Es geht also los. Nicht zum ersten Mal für mich, aber es ist doch schon eine Weile her, dass ich das letzte Mal gefastet habe. Ich laufe abends meine Hausstrecke, die kleine Runde (10km), es ist trocken und kalt. Ich bemerke keine Veränderung zu sonstigem Laufen.

Dienstag 08.04.2003: x+1

Morgens habe ich etwas Lust auf Essen, nehme das eine oder andere Obst in die Hand, doch ich lege es wieder weg. Gestern noch war Obst in Ordnung, als „Hineingleiten“ ins Fasten. Aber heute nicht mehr. Bald vergeht diese Gewohnheit. Vieles ist einfach Gewohnheit, denn Hunger habe ich keinen. Ich denke während des Arbeitstages nicht mehr an Essen, trinke Wasser und mache mir ab und an einen Früchtetee. Auch abends als ich wieder zuhause bin. Ich arbeite normal, bin sehr konzentriert und abends begebe ich mich auf meine kleine Laufrunde wie gestern. Es ist sonnig, ich empfinde es als kühl aber nicht sehr, mein Puls liegt leicht über dem was sonst so ist. Aber das kann auch andere Gründe haben. Ich fühle mich prima, und als ich zu Bett gehe denke ich, dass es heute erstaunlich leicht ging ohne Essen, und wohl morgen der schwere Tag kommt... Mal sehen.

Mittwoch 09.04.2003: x+2

Ich habe nicht lange geschlafen, aber sehr tief und ruhig. Ich fühle mich frisch und munter, sehr arbeitsam und bin gespannt wie der Tag wird. Das Aufstehen geht jedenfalls schon mal leicht. Ich bemerke wie meine 5 Sinne allmählich auf 4 reduziert werden. Die aber werden sensibler. Mein Geschmack wird nicht mehr gebraucht, das Wasser schmeckt immer gleich. Ab und zu eine warme Tasse Tee dazwischen.

Beim abendlichen Lauftreff (15km) ist mein Puls wie gestern, etwas höher als normal, nicht viel. Ich habe kältere Hände als sonst, fällt mir auf. Immer mehr kommen mentale Dinge angerollt, ich spüre es. Ist nicht immer so, aber diesmal. Wie jeden Abend tausche ich mich auch heute abends mit meinem Fastenpartner aus. Das motiviert mich, weil ich heute etwas mit meiner Motivation zum Fasten hadere. Zu zweit geht es leichter.

Ich beobachte intensiver als sonst, sehe mich in meiner gewohnten Umgebung fast so um, als wäre ich in einer fremden. Vieles sehe ich in anderem Licht, denke darüber nach. Woher kommen diese Dinge? Wieso stehen die so wie sie sind? Ich sehe mehr und mehr hinter die Dinge, die Gewohnheiten, die Begegnungen. Als ich eine Treppe wie gewohnt hinaufgehe bemerke ich dass mir leicht schwindelig ist und ich etwas außer Puste bin. Zuerst frage ich mich was los ist, doch dann fällt es mir ein. Ich faste. Ja, mehr Zeit lassen! Es wird Abend, ich genieße in Ruhe und bei Kerzenlicht meinen letzten Früchtetee. Bin schon gespannt was morgen kommen wird? Heute jedenfalls war ein recht angenehmer Tag. Zu angenehm, denke ich mir, erinnere mich an andere Fastenzeiten. Bestimmt morgen...

Donnerstag 10.04.2003: x+3

Beim Aufstehen bin ich ein wenig wackelig, aber kaum. Es geht sofort wieder. Ich freue mich, dass ich völlig okay bin und nehme meine Wasserflasche. Es geht mir prima, ich habe keine Schwächegefühle, nicht geistig, nicht körperlich. Keine Gelüste, kein Appetit. Ich fühle mich leicht und kräftig. Ein Arzt (der selbst nie gefastet hat) sagt mir heute anlässlich der lange geplanten Vorsorgeuntersuchung, ich solle nicht fasten, da meine Leistungsfähigkeit sinken würde. – Ich fühle mich aber gar nicht so. Dennoch bin ich sehr aufmerksam und neben all den guten und tiefen Gedanken, die in meinen Kopf gelangen beobachte ich doch sehr aufmerksam alle Symptome meines Körpers. Heute habe ich keine Lust auf Laufen. Naja, war ja auch gestern und vorgestern schon. - Wasser, Früchtetee, Wasser. Und so vergeht auch dieser Tag ohne etwas Besonderes, was es zu erwähnen gäbe.

Freitag 11.04.2003: x+4

An das ganz leichte Schwindelgefühl beim Aufstehen habe ich mich bereits gewöhnt. Es vergeht nach zwei Minuten. Ich habe 6,5 % meines Körpergewichtes verloren, sagt meine Waage. Hey, wow! Heute ist schon der fünfte Fastentag und es geht mir weiterhin sehr gut. Kein Teil meines Körpers meldet sich. Der gewöhnlich richtig schwere Beginn des Fastens ist definitiv vorbei, ging so leicht dass ich es noch nicht glauben kann. Ich trinke jetzt öfters mal einen Früchtetee, denn langsam beginnt mir das Wasser etwas fade zu schmecken. Meine Umwelt bemerkt mehr und mehr, dass ich nichts zu mir nehme. So spreche ich ab und zu darüber, denn jetzt bin ich ja „über den Berg“. Ich kann ohne Probleme neben Menschen sitzen, die essen, rieche den Duft der Mahlzeiten, gerne übrigens, doch es macht mir keinen Appetit. So als wäre ich richtig satt. Komisch, denke ich mir. Doch auch meinem Fastenfreund geht es so.

Abends gehe ich wieder Joggen (15km). Die ersten 5km beginne ich langsam, wie mit Gegenwind, ich fühle mich träge. Doch dann geht es leichter. Mein Puls ist höher als sonst, etwa 10 Schläge pro Minute. Jetzt ist mein Gefühl auch wieder gut. Und so laufe ich weiter durch die Feldwege und den Wald, betrachte die Natur im Frühlingserwachen und bin guter Dinge. Ich habe im Vergleich zu gestern nichts mehr abgenommen, mein Gewicht bleibt gleich. Ob ich weiter fasten soll? Na, gut geht es mir jedenfalls! Auch jetzt wo ich mittlerweile in Zürich bin, wo übermorgen der Marathon sein wird. Ich mache mir schon Gedanken, ob es ratsam ist mitzulaufen. Doch weil es so prima geht, beschließe ich auch den morgigen Tag erstmal kommen zu lassen, um dann zu sehen was übermorgen am Tag des Marathons sein wird.

Samstag 12.04.2003: x+5 - der „kein“-Tag

Morgens kein Schwindelgefühl, keine Schwäche. Das gab es noch nie. Ich habe 6 Stunden geschlafen, und will nicht mehr im Bett sein sondern etwas tun. Ich bin überhaupt nicht müde. Meine Zunge ist belegt, ein bekanntes Fastenphänomen. Mein Körper reinigt sich wo immer es geht. Auch die Ohren jucken manchmal.
Tagsüber keine kalten Hände, nur etwas temperaturempfindlicher als sonst. Ha, super! Kein Appetit, keine Gelüste oder Hunger. Keine eingeschränkte Leistungsfähigkeit im Alltag, auch Treppen gehe ich wie sonst. Ich bin mental leicht, denke wenig. Ich nehme die Dinge wie sie kommen. Ich bin leicht. Am Nachmittag bemerke ich kurz ein leichtes Magendrücken. Aha, denke ich mir, jetzt kommt es... Doch es ist nur, weil ich vollkommen vergessen hatte etwas zu mir zu nehmen. Ich trinke Tee und weg ist es. Heute habe ich immer noch dasselbe Gewicht wie vorgestern. Laufen will ich heute nicht, denn morgen ist der Marathon. Ob ich es wirklich wagen soll? Fasten und Marathon? – Gut, ich werde mit Lisa und Sylvia laufen. Zwei Begleiterinnen, das gibt mir Sicherheit. „Naja, falls mir was passieren sollte“, meldet sich mein Kleinhirn. Ich lache. Eigentlich soll es umgekehrt sein: ICH coache die beiden bei ihrem ersten Marathon. Das alleine ist schon keine leichte Aufgabe. Wir sitzen abends bei der (privaten) Nudelparty und sinnieren weiter über was alles sein könnte bei einem Marathon. Die Freunde am Tisch sorgen sich sehr um die beiden Erstlinge. Lisa macht einen sehr lockeren Eindruck, erstaunlich locker wie ein „alter Hase“, Sylvia dagegen sieht schon besorgt aus. Wir sehen uns den Streckenplan an und die Fans suchen nach Stellen wo man gut stehen und zusehen und applaudieren kann. So geht auch dieser Abend zuende. Ein sehr schöner Tag im sonnigen Zürich. Und wir hatten viel Spaß den ganzen Tag über. An Essen oder nicht habe ich nicht mehr gedacht. Es wird mein erster Fasten-Marathon! Definitiv. Ich spüre es.


Sonntag 13.04.2003: x+6, siebter Fastentag, Marathon

All meine Sachen hatte ich schon gestern vorbereitet, den schwarzen (!) Chip, die Laufsachen und meine Wechselwäsche im Kleidersack. Die Schweizer sind einzigartig, der Chip ist wie der Original-Championchip, nur schwarz, und gilt nur hier. Ich lache darüber. Um halb 7 stehe ich auf, blicke in den Morgennebel, sorge mich um die 5 Grad draußen. Ob es regnen könnte wie vorhergesagt? Ich ziehe mich warm an. Lisa ist fit, guter Dinge und ganz neugierig wie es wohl werden wird. Aufgeregt? Sie nicht. Okay, eine Aufgabe weniger für mich. So fahren wir in die eine halbe Stunde entfernte Stadt, blicken auf die rot hinter den Bergen hervorgetretene Sonne, die knapp über der Nebeldecke steht, die die Landschaft noch zudeckt. Ein Blick für die Kamera. Schweizer Impressionen.

Wie ich gegen eine Kuhglocke gerannt bin, mir ein Panflötenspieler in die Seele geguckt hat, warum Bernhardiner nicht Marathon laufen können und vor allem, wie all die Kilometer bis ins Ziel mit Lisa und Sylvia waren, wie es ihnen und auch mir (fastend) während des Marathons erging, wieso ich „don`t think about tomorrow“ passend fand...

********

Der Marathon

Wir treffen Sylvia und gehen alle zum Startbereich, kommen rechtzeitig etwa eine halbe Stunde vorher dort an. Es ist kalt, mich friert. Wir orientieren uns im Gewimmel. Ich möchte in eine warme Halle oder so etwas, damit wir uns dehnen können. Etwas hinter dem Start-/Ziel-Bereich steht ein großes weißes Zelt, das muss es sein. Ja. Gut! Es ist frisch draußen. Und drinnen hunderte Läufer, die sich umziehen, einfetten, es riecht nach Massageöl, Cremes, Pflästerchen werden geklebt. Was man eben so sieht vor einem Marathon. Lisa kennt die „Rosa B.“-Übungen (www.team-bittel.de/team/rosa_b/index.htm ). Sylvia noch nicht. Wir beginnen mit unserem Stretching. Im Zelt ist es angenehm. Ich betone wie wichtig es ist, sauber und ruhig zu dehnen. Ich möchte, dass die beiden weder während, noch nach dem Laufen irgendein Verletzungsrisiko haben. Also mir tut es richtig gut, das Dehnen und Strecken. Langsam werde ich etwas beweglicher nach der morgendlichen Kältestarre. Dann laufen wir uns noch 10 Minuten ein. Es wird auch schon Zeit und wir traben zum Start. Genau zwei Minuten vorher winden wir uns durch die Heckenbüsche wie etliche andere auch und stellen uns unweit des 4:00 h-Bereichs in die Menge. Was wohl in den Leuten um mich herum vorgeht? Ich erinnere mich eine Sekunde an meine ersten Marathons. Hui, schon wieder weg, denn ich sorge mich um meine beiden Schützlinge, die zum ersten Mal mitlaufen.

Am Start

Die Sonne hat den Nebel verdrängt, es ist windstill, aber kalt. Fünf Grad. Ich überlege, erinnere mich an vergleichbare Marathons und bekomme die Erleuchtung: heute wird es warm. Also: Jacke weg! In Gedanken laufe ich mal kurz bei km 15 und spüre wie sich dort der Asphalt aufgeheizt hat. Lisa und Sylvia stehen noch. Ich jetzt auch wieder, zurück vom km15. Die zwei lächeln in meine Kamera, umringt von tausend innerlich zappelnden Startern. Wie viele Erstlinge mögen heute hier sein? Die Mädels sind ruhig. Wieso sind die nicht aufgeregt wie die anderen? Na ja, um so besser. - Knall! Die Spitzenläufer und der Schweizer Meister sind schon unterwegs. Aber wir stehen noch. Nach nur 3 Minuten überqueren wir die Startmatte, laufen durch das gelbe Start-Tor. Es geht los! Ich blicke Lisa in die Augen. Sie ist fest entschlossen. Und Sylvia? Eine Spur besorgt.

Ich trabe los, ein Tempo von etwa 6:30 min je km zu erreichen. Km1 und exakt 6:30 min! Das ist mir selten gelungen, vor allem in dem Getümmel einer startenden Menschenmasse. Doch in Zürich geht das. Man kann wirklich vom Start an sein Tempo laufen! - Km2. Ich frage, ob die beiden es auch so sehen, den Windbreaker auszuziehen? Am Ende dieser langen Geraden sehe ich Lisas Freunde stehen. Wir geben ihnen unsere Jacken. Das megagroße Transparent mit ihrem Namen drauf, die Freunde, die sich lautstark bemerkbar machen und sie so kräftig anfeuern, dass ich Mühe habe Lisa und Freundin wieder auf unser Tempo herunterzubremsen. Es ist ganz normal, dass der Applaus, den ein Erstling in der Regel ja höchstens halbwegs kennt, ihn beflügelt. Ich beruhige die Gedanken und Emotionen und laufe konstant unser 6:30-Tempo weiter. Ich beobachte meine Uhr, auch mal nebenbei meinen Puls, die beiden Läuferinnen. Wir überqueren die Brücke und ich sehe den ganzen See majestätisch im Morgenlicht glänzen. Fahne "km3". Wir sind exakt in der Zeit. Und die beiden neben mir scheinen noch gar nicht hier zu sein. Auf jeden Fall sind sie ruhig. Das ist wichtig, denke ich. Ich beginne den Laufstil meiner beiden Begleiterinnen zu beobachten. Sehr gut! Es geht ganz locker und ruhig voran. Das nächste Zeichen kommt erst wieder bei km5. Wir haben unser Tempo. Es ist nicht leicht für Anfänger wenn nach km3 erst wieder bei km5 eine Markierung kommt. Die erste Getränkestelle. Ich sage „2 Schluck trinken und wenn es geht stehen bleiben“. Sie gehen. Na hoffentlich verschluckt sich keine. Die Strasse ist mit weißen Pappbechern übersät. Ich versuche zu ergründen was in den Köpfen der beiden vorgeht. Ich gebe es auf. Stattdessen frage ich: „alles klar, Puls okay?“ Alles super! Ich habe zu tun das Tempo gleichmäßig zu halten, denn die zwei lassen sich vom Publikum mitreißen. Immer wieder sage ich „langsam, ruhig atmen“. Boote liegen am Ufer.




Ich blicke auf den See und lasse meine Gedanken eine Weile dort segeln. Dann nehme ich mir einen Moment und höre nur auf mich. Wie geht es mir? Als hätte Sylvia es gespürt fragt sie: „und wie geht’s Dir“. Km8, es geht mir locker leicht. Ob ich bald etwas spüre vom Fasten? Schwäche vielleicht? Magendrücken? Ich bleibe wachsam und lasse es mal kommen. Noch geht es prima. - Ich habe den Eindruck, die beiden können einen Tic zulegen. Km10, exakt wie die ersten 5km! Erstaunlich. Wieder Getränke, wieder auf hundert Becher treten. Das Trinken klappt bei ihnen, sehe ich. Sich verschlucken wäre fatal. Nachdem die beiden sowieso gerne „ziehen“, d.h. einen halben Schritt vor mir laufen, frage ich, ob wir eine Minute auf 5km zulegen. Okay, gut. Ich justiere meine Geschwindigkeit neu. 6:18 min/km. Bald verschwindet Lisa kurz, ich gebe ihr den Rat: „gaaanz langsam wieder rankommen!“. Wir anderen beiden laufen etwas langsamer weiter. Dann Sylvia in eines der an der Strecke immer wieder stehenden Toi-Toi-Häuschen. Sie jedoch kommt zu schnell wieder an uns ran. Ob das gut geht?

Doing! Aua! Ich bin gegen eine riesige Kuhglocke gerannt. Mein Kopf dröhnt wirklich so, mein rechtes Ohr schmerzt. Jemand hat direkt neben mir am Straßenrand, just als ich zehn Zentimeter daneben lief mit dem Läuten einer gigantisch großen Almglocke begonnen. Ich fühle mich wie gegen einen Masten gerannt: Mein Kopf muss die Form einer Glocke haben. Drinnnng! Für dreißig Sekunden schwingt mein Kopf wie die Glocke. Es würde mich nicht wundern, wenn ich erstens so aussehe und zweitens so klinge. Klinnng! Aber doch ist es irgendwie typisch Alpen, typisch Schwyz. Zürich, es sei dir verziehen!

Weiterlaufen. Ich finde mich schnell wieder in den Strom, kehre auf meine Welle zurück. Eine Live-Band spielt „Don’t think about tomorrow“. Wie passend jetzt. Ob morgen meine Ohren noch nachhallen?


Da ist er. Ich wusste es. Wer? Na der Bernhardiner. Ein Marathon in Zürich muss einfach einen Bernhardiner haben. Er steht am Gehsteig und guckt den Läufern nach. Als würde er sie zählen. Viel zu beschäftigt, als dass er darauf käme mitzulaufen. Wollen täte er sicher. Ich bleibe kurz stehen, und er sagt mir, dass er viel Verantwortung zu tragen hätte gerade. Gut, Junge, und danke Dir dafür! - Ich blicke immer wieder auf den See. Boote liegen im windstillen See, schaukeln nicht. Das andere Ufer ist klar zu sehen in der schrägen Morgensonne. Der Nebel ist weg. Es ist angenehm kühl. Die Mädels: „gute Temperatur“. Ich beobachte jetzt eine Weile genauer den Laufstil der beiden, die Beine, die Schultern, die Hüften. Wir haben schon km15 passiert – wie ein Uhrwerk im geplanten Tempo -und alles schwingt prima bei den zweien. Noch immer muss ich sie ab und zu bremsen, wenn z.B. Arbeitskollegen oder gar der Chef am Straßenrand stehen und sie anfeuern. Kommt, wieder ruhig werden! Ich scheine Erfolg zu haben. Wir überholen langsam immer mehr Läufer. Manch einer kämpft schon sehr. Viele laufen unglücklich schwitzend in Jacke und langer Hose. Die Spitzengruppe, mehrere Schwarze und ein Weißer kommen uns entgegen. Wow, das könnte eine Zeit um 2:10 h werden, kalkuliere ich. Dann kommen wir an die Wende in Meilen, es geht bergauf, eine enge Gasse von Zuschauern, sie lässt kaum Platz für zwei Läufer nebeneinander. Eine lautstarke Menge und begeisternde Stimmung, die uns schier nach oben bläst. Es ist ziemlich steil. Ich sage „langsamer werden“, denn der Puls soll nicht zu sehr steigen. Durch das Tor der Wende, um die Kurve, und es geht wieder bergab. "Laufen lassen, große Schritte, Arme locker!" Und sie lassen es laufen. Wirklich erstaunlich wie gut die beiden im Gesicht aussehen, keine Anzeichen von km20! Lisa scheint einen Trainingslauf zu absolvieren.

Bei der Halbmarathonmarke haben wir eine Zeit von 2:14:30 h. Kurzes Rechnen: das würde ja eine Endzeit von 4:30 h ergeben. Oh wäre das super! Lisa freut sich. Ich frage, ob das Tempo so okay ist, das wir unbeirrt laufen. Ist es. Ich gebe zu bedenken, dass „es noch weit ist bis ins Ziel, und leicht wird es nicht!“. Die Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung wieder herstellen.


Ich ziehe mich in meine Gedanken zurück, freue mich, dass das Fasten mich in keinster Weise beeinflusst und ich selten so leicht gelaufen bin wie jetzt. Ob das bis zum Ende gut gehen wird? Ich spüre: ja. Und ich beginne auf dem Grund meiner Seele zu wandern. Ich fühle das Vibrieren meiner Schritte, den leisen Windhauch der in mich hinein weht, die gelassene Ruhe, die sich in mir ausgebreitet hat. Und ich treffe dort einen Ton. Hey! Einen angenehmen Ton. Er ist warm, leicht, und meiner Ruhe und Leichtigkeit und Zufriedenheit voll entsprechend. Es kommen drei, vier mehr weich schwingende Töne dazu. Faszinierend wie das jetzt passt. Ich schaue durch meine Pupillen hinaus und: ich sehe wie ein dicker Panflötenspieler mir in die Augen sieht. Blicke die sich begegnen. Ich wache wieder auf.



Als wir km25 passieren, gebe ich Sylvia ein paar Tipps zu ihrem Laufstil, denn sie läuft mit ein bisschen Anstrengung. Nicht viel. Unmerklich. Sie nimmt es auf und denkt. Mittlerweile hat sich uns Heinz und ein weiterer Läufer angeschlossen, die unser Tempo mitlaufen möchten und eine konstante Führung wie durch mich schätzen. Okay, dann sind wir jetzt fünf. Ich weiß, Lisa ist noch nicht viel länger als 25km gelaufen bisher. Das zwar schon einige Male, doch ab jetzt beginnen neue Welten. Lisa denkt das wohl auch, aber sie läuft im gleichen Tempo und läuft und läuft. Ich bin beruhigt. Ob sie auf den Mann mit dem Hammer wartet? Sie hatte mal so etwas erwähnt. Doch ich müsste mich sehr täuschen, wir sind bei km28 etwa, wenn er sie erwischen würde. Sylvia hängt minimal hinterher, doch sie kommt wieder heran. Ich schicke einen unserer beiden Mit-Läufer weiter, sehe er hat noch Reserven. „Geh ganz langsam weiter“. Er geht. Es ist warm geworden, Lisa trinkt öfters aus ihrem Trinkgürtel. Manchmal fällt es ihr schwer die Fläschchen wieder hinten rein zu stecken. Ja, klar, das ist nicht einfach. Ich helfe ihr. Dann km30, Lisas Fans stehen wieder und rufen begeistert. Wieder das Transparent. Ich bin mir sicher, keiner hat mehr und lautstärkere und treuere Fans als „Annelies“. Stehen bleiben und kräftig trinken! Sylvia, etwas unrund laufend seit zwei km braucht ein wenig länger, um nach der Trinkpause wieder in Gang zu kommen, Heinz läuft vor mit Lisa. Ich frage Sylvia, was ist? Sie möchte langsamer machen, sonst überhitze sie. Schweren Herzens lasse ich sie alleine, schließe ihrem Wunsch gemäß zu Lisa auf. Für die Zuschauer ist es wohl das beste Stück zwischen km30 und km35, denn es ist eine mehrfache Begegnungsstrecke. Es ist viel Publikum hier. Sie brauchen nur wenige Meter zu gehen und sehen uns wieder. Das tun auch unsere Fans. Mit Begeisterung, und laufen ein paar Meter mit uns. Das jedoch ist gefährlich, merke ich, denn sie wollen in ihrem Eifer mit Lisa reden. Ich spüre, wie sie drauf und dran ist außer Rhythmus und Atmung zu geraten und bitte die Freunde, sie nicht in allzu viel Gespräch zu verwickeln. Es tut mir leid, sie bremsen zu müssen, aber sie wissen ja nicht wie es einem Läufer bei km32 geht. Lisa wird etwas langsamer. Nicht sehr. Einen halben Schritt. Ich lasse sie ihren Schritt laufen, sehe für 15 Minuten nicht auf die Uhr. Sie wird sich wieder erholen, wenn ich es zulasse, spüre ich. Wenn ich das Tempo weiter in 6:18 laufe, würden diese letzten 7km zur Tortur. Lisa, Du packst das! Erhol Dich. Und ich freue mich, dass sie wieder in den Tritt kommt. Etwas flau ist mir schon im Magen. Nein, nicht wegen meines Fastens. Das habe ich längst vergessen. Wegen Lisa. Ich Puls sei okay, höre ich immer wieder. Erstaunlich. So ziehen wir durch die Ecken und Kurven der Innenstadt, über fußermüdendes Kopfsteinpflaster. Heinz bleibt bei uns. Wir überholen und überholen. „Eine Leichenschar“, wie Lisa nach dem Lauf treffen sagt. Einige jämmerliche Figuren, in der Tat. Viel zu schnell angegangen. Auch der schicke schwarze „Rasta Man“, wie ich ihm zurufe, als wir ihn auf der Begegnungsstrecke immer wieder sehen. Er kann nur mehr gehen.


Dann kommt km35. Wir haben etwa 2 min länger gebraucht, sagt mir meine Uhr. Das ist okay. Ich rufe Lisa zu: „km35 und immer noch so locker!“ – Sie strahlt über das ganze Gesicht und ich spüre sie ist unbeirrbar auf einem super Kurs. Die letzte Schleife in der Innenstadt. Das Publikum steht jetzt überall, in Zweierreihen. Die Freunde mit dem Transparent noch mal. Die Freundin, die es gut meint und mit dem Fahrrad nebenher fährt redet mit Lisa. Ich winke ab: "nicht mit ihr reden!" Km38, km40. Wow, Lisa, Du bist großartig! Wir werden 4:30 h laufen, das weiß ich. Lisa beginnt zu kämpfen. Und wir reden sogar noch ein paar Worte miteinander. Jetzt habe ich auch keine Sorge mehr, dass sie zuviel Puste verbraucht mit Reden. Jetzt ist es egal. Als wir das gelbe Tor bei ca. km41 sehen fragt sie: „ist das das Ziel?“ Ich weiß es ist ein psychologischer Trick, die 2km lange Zielgerade aufzulockern, die Läufer abzulenken. „Nein, noch ein km“. Lisa winkt mitlaufenden Freunden ab, sie sollen ruhig sein, nicht mit ihr sprechen. Lisa, komm! Die auf den Asphalt geklebten Markierungen sollen motivieren, es sei nicht mehr weit: 500m, 400m, 300m.. Doch ich finde, wie Lisa auch, das motiviert nicht sehr. Ich laufe ein paar Schritte voraus, lasse sie ganz alleine auf ihren letzten 100 Metern und mache ein Zielfoto von Ihr. Zugegeben so k.o. wie sie später sagte sieht sie ganz und gar nicht aus!

Lisa, Danke! Das war ein fantastischer Marathon. Dein erster. Und einer den ich nicht vergessen werde. Und die Sonne hat einen fantastischen Tag dazu gezaubert. Was kann einen erfahrenen Marathoni mehr beeindrucken, als mit einer gut und glücklich ins Ziel kommenden Novizin einzulaufen? Wir haben es wirklich geschafft!

„Herzlich willkommen im Club!“, sage ich zu Lisa, die mir in die Arme fällt.


Erwin vom „Team Bittel“




Infos: 4.668 Starter, Zeitlimit 5:00 h - www.zurichmarathon.ch

Weitere Bilder zum Bericht

Weiterführender Link zum Thema: Offizielle Website des Zürichmarathons
 
[team/fuss.htm]